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GEGENWART

Gegenwart I

Das Pandemie-Jahr 2020 bescherte vielen eine neue Erfahrung und konkretisierte für manche ein zuweilen dumpf vorhandenes Gefühl: Eine Welt ohne Menschen nahm plötzlich Gestalt an. Sie manifestierte sich andeutungsweise in unserem unmittelbaren Umfeld in Form von schwindenden oder ausbleibenden Kontakten und sich leerenden, ursprünglich der Gemeinschaft gewidmeten Räumen. 

Die Deklaration des »Anthropozän«, des erstmals in der Geschichte vornehmlich vom Menschen geprägten Erdzeitalters, geht nach mehr als zwei Jahren globaler Pandemie einher mit einer dem Anschein nach einsetzenden Verwirklichung von Untergangsszenarien – Dystopien, die von biblischen und mittelalterlichen Apokalypsen bis hin zur Science-Fiction-Unterhaltung immer schon in unserem kollektiven Unterbewussten verankert waren. 

Wer erinnert sich nicht an die sonnig-kalten Tage im März 2020, in dem eine »epidemische Lage von nationaler Tragweite« in Deutschland ausgerufen wurde? Die ungewohnt drastischen Konsequenzen für unser berufliches und privates Leben führten zum erzwungenen Rückzug ins Häusliche und zur Zurückstellung der meisten sonst üblichen wirtschaftlichen Primate.

Es atmete sich – so man gesund geblieben war – buchstäblich freier in diesen klaren Tagen beinahe ohne Auto- und Flugverkehr. Und anstelle der gewohnten Betriebsamkeit staunte man über menschenleere Einkaufsstraßen und konnte man sich an der unüberhörbaren Stille über den Städten kaum satt hören.

Dafür wuchsen die Ungewissheit angesichts einer unberechenbaren Bedrohung, die Verunsicherung durch die dynamische Entwicklung des Geschehens mit ihren sich stetig ändernden Erkenntnissen sowie ein Gefühl der Unwirklichkeit. Der Anblick leerer Regale, das Fehlen von Mehl, Nudeln oder Toilettenpapier und die gewöhnungsbedürftige Nutzung der Maske irritierten uns zusätzlich. 

Je nach individueller Betroffenheit in Bezug auf Gesundheit, Wohnraum, Familie und Arbeit, erlebten wir unterschiedliche, durchaus auch positive Erfahrungen und Wahrnehmungen der Lage. Mit der Infragestellung der bisherigen Lebensweise nach dem Motto »Ein ‚weiter so‘ kann/darf/soll es nicht geben« hoben allerorten Wellen der Achtsamkeit an. Eine neue Sicht der Dinge, eine Neubewertung bisheriger Verhältnisse wurde plötzlich und kurzzeitig auf breiter Front denkbar und diskutabel. Ohne die zum Teil dramatischen Belastungen und Verwerfungen in allen Lebensbereichen, ohne die Toten außer Acht zu lassen, wuchs das moralische Selbst, indem es in den auf den Balkonen einsetzenden Applaus für die »Helden der Pandemie« einstimmte.

Dem Verschwinden des Menschen und seiner Verkehrsmittel aus seinem Kulturraum war also durchaus etwas abzugewinnen. Man wandte sich wieder der von zivilisatorischem Überfluss befreiten Natur zu. Nach den vorangegangenen, äußerst trockenen und heißen Jahren übernahm das Virus abrupt die Regentschaft und verschleierte, wenn auch nur kurz, wie sehr der von Menschen gemachte Klimawandel bereits die Grenzen zwischen Kultur- und Naturraum verwischt hatte. 

Mit autofreien Straßen und Autobahnen sind die Älteren unter uns gleichwohl bereits vertraut: Auf die Öl- oder richtiger Ölpreiskrise reagierte die Bundesregierung 1973 in Form von autofreien Sonntagen. »Staunend nutzten viele Bundesbürger die seltene Möglichkeit, einmal eine Autobahn zu Fuß oder per Fahrrad zu erkunden«, vermerkt Wikipedia. Mit dem vierten, nur noch bedingt autofreien Wochenende in Folge und wieder zahlreichen Staus, war das surreale Ereignis schnell wieder vorbei. Das Ausmaß der damaligen Beschränkung kann aus heutiger Sicht als Vorgeschmack auf unsere Gegenwart gewertet werden. 

Zäsur

Das Bild des Staunens, des »auf-sich-zurück-geworfen-Seins« unter irregulären Bedingungen, blieb über die Zeit der Pandemie hinaus haften: Der Anblick von Straßen ohne Autos war ebenso ungewohnt, wie das Fehlen der damit verbundenen Geräuschkulisse. Unter dem Eindruck leerstehender Regale wurden über den Kreis von Systemkritikern hinaus Fragen nach der Funktionalität unseres Wirtschaftssystems und – grundsätzlicher noch – unseres Lebensstils mit seinen zugrunde liegenden Werten gestellt. Wenn schließlich der Mensch aus dem von ihm geschaffenen Raum verschwindet, erscheint seine Gegenwart infrage gestellt. Robinsonaden erzählen von diesem Lebensgefühl der Protagonisten als Beobachter einer ansonsten menschenleeren Welt. Werke der Phantastik von Arno Schmidts Erzählung »Schwarze Spiegel” (1951) bis hin zum Science-Fiction-Blockbuster »I am Legend« von Francis Lawrence (2007), schildern   diese vergifteten Idyllen.

So schaffen Abwesenheit und damit einhergehende Leerräume Platz für Spekulationen: Blicke und Gedankengänge werden nicht mehr verstellt oder abgelenkt durch die uns stets in Bann ziehende menschliche Gestalt. Das Fehlen von Menschen mag auf Bildern befremdlich wirken und verbunden sein mit Empfindungen von Surrealität, wie sie sich etwa beim Anblick der menschenleeren Fotografien Eugène Atgets vom Paris der vorletzten Jahrhundertwende einstellen können. Gleichzeitig kann mit dem latenten Unbehagen eine Reflektion über das Wesen der diese Kulissen ansonsten beseelenden Bewohner einsetzen. Und vielleicht berichten und verraten Kulturlandschaften, Stadträume, Fassaden und überhaupt unsere Schaffensspuren mehr über ihre Erzeuger, als deren Konterfeis.

Gegenwart II

Seit den Anfangstagen der Fotografie gehört es zu einer fast selbstverständlichen Konvention, sich in Architekturfotografien bei der Darstellung von Menschen bestenfalls auf den Zweck der Maßstäb- lichkeit oder als ein kompositorisches Element zu beschränken. 

Die Pandemie habe den Blick wie ein Brennglas auf gegenwärtige Verhältnisse gelenkt, bestehende Probleme verstärkt und grundsätzliche Fragen aufgeworfen, behaupten aufmerksame Beobachter anscheinend mit einiger Berechtigung. Dies gilt auch für neun ausgewiesene, einander bekannte Architekturfotografen, die sich wegen der vorüber- gehend veränderten Arbeits- und Lebensumstände auf eine bewusste Auseinandersetzung mit der An- beziehungsweise Abwesenheit von Menschen in ihren Fotografien einließen. Mit den Beschränkungen des öffentlichen Lebens wird augenfällig, wie sehr diese Situation der üblichen Arbeitsweise vieler Architekturfotografen im Grunde entgegenkäme: Weniger Betriebsamkeit würde ein ungestörtes Arbeiten erlauben, wenn dadurch nicht auch vermehrt Aufträge ausblieben und man in Innen- räumen nicht oder nur eingeschränkt arbeiten dürfte. Unabhängig davon aber, stößt die Wahr- nehmung des plötzlichen Einsetzens von nicht nur räumlicher Leere eine Reflektion über das eigene Medium an. 

Aus unterschiedlichen Beweggründen entstanden so individuelle Fotoarbeiten, die ganz bewusst eher die Ab- als die Anwesenheit des Menschen im Bildraum thematisieren. Die Architektur als eigentliches Sujet von Architekturfotografen tritt dabei zum Teil völlig in den Hintergrund. So löst Annika Feuss die während der Kontaktbeschränk- ungen auf einsamen Spaziergängen entstanden Naturfotografien in monochrome »374 Pixel« auf. Lukas Roth dagegen legt die Architektur der »Stadträume« bis auf ihr Skelett frei, indem er nicht nur die Passanten, sondern alle auf unsere Gegenwart verweisenden Details aus seinen Fotografien verbannt.

Axel Hausberg wiederum »klont« in seinen Innenaufnahmen Menschen gleich mehrfach digital, nicht ahnend, dass er nur wenig später nicht nur einen Großteil dieser Bilddateien, sondern auch sein gesamtes Hab und Gut an die nächste Naturkatastrophe verlieren würde. Das Jahrhunderthochwasser an der Ahr, ein wie Covid 19 vom Menschen zumindest mitverursachtes Naturereignis, spülte sein Haus samt Inhalt einfach fort: Eine fast zynisch zu nennende Realisierung von der Idee des Verschwindens und von der Verwischung der Grenze zwischen Natur und Kultur.

Heute, im Frühjahr 2022 überlagert schon die nächste menschengemachte Katastrophe die jüngsten Ereignisse. Ein Krieg ist in Europa entfacht worden und mit ihm die allgegenwärtige Möglichkeit nuklearer Vernichtung.

Und wieder heißt es: Nichts kann/darf/soll mehr so sein, wie es ist. 

 

Stefan Schilling im März 2022